Der Begriff Multi-Channel-Handel umfasst eine bestimmte Ausprägungsform von Mehrbetriebstypenunternehmen des Einzelhandel, bei der gleichzeitige Anwendungen auf mehreren verschiedenen Vertriebs- oder Betriebstypen erfolgen (Schramm-Klein, 2003, S. 21). Durch die Internet-Evolution steigt die Anzahl der Unternehmen, die das Internet in ihrem Vertriebsportfolio aufnehmen und ihre ersten Multi-Channel-Strategien umsetzen. Große Handelsunternehmen haben viele erfolgreiche Online-Händler aufgekauft und in ihren Multi-Channel-Strategien einbezogen. Auch Online-Händler bemerken, dass ihre Chancen zunehmend steigen, wenn sie sich durch ein stationäres Geschäft oder Outlets ergänzen und damit ihren Kanal erweitern. Heute sind eine Menge unterschiedlicher Multi-Channel-Systeme vorhanden, jedoch ist die Rede von einem Multi-Channel- Handel nur dann, wenn er in Kombination mit einem ergänzenden Internet-Kanal gebracht wird. Aufgrund der unterschiedlichen Fähigkeits- und Kompetenzanforderungen kann die Verbindung von stationärem Handel und Online-Handel als einer der anspruchsvollsten Formen des Online-Handels betrachtet werden. Der Eintritt eines Online- Händlers in den stationären Handel bringt eine Reihe von Herausforderungen mit sich, wie beispielsweise die Entwicklung eines neuen Sortimentskonzept oder die neue Standortführung (Heinemann, 2016, S. 117f.).

 Traditionelle Einzelhändler müssen sich auf ein neues Einkaufsverhalten einstellen, um die Kundenanforderungen zu erfüllen, ohne ihr Geschäftsmodell aufgrund der Komplexität der Logistik zu beeinträchtigen. Die Koordination von Online- und klassischen Kanälen wird immer wichtiger (Swaminathan & Tayur, 2003, S. 1392).

Kaufentscheidungen werden zunehmend durch Suchen und Einkaufen in mehreren Kanälen beeinflusst. Aus Sicht des Marktes verschärfen sich der Wettbewerb und der Kostendruck aufgrund der zunehmenden Preistransparenz, die effizientere Abläufe erfordert. Innovative Betriebsstrukturen für die Auftragsabwicklung sind unabdingbar, um die steigenden Kundenerwartungen hinsichtlich kürzerer Lieferzeiten zu erfüllen. Diese Entwicklungen erhöhen den Druck auf die gesamten Betriebssysteme. Eine der Kernaktivitäten des heutigen Multi-Channel-Handels ist es, effizient zu arbeiten. Insbesondere traditionelle stationäre Einzelhändler stehen zunehmend vor der Herausforderung, ihre Lager- und Distributionsprozesse neu und flexibel zu gestalten. Es müssen Strukturen und Prozesse entwickelt werden, die Synergien in Vertrieb, Organisation und Logistik im stationären und Distanzhandel nutzen. Für viele Einzelhändler bedeutet dies völlig neue und unbekannte Betriebsabläufe (Fawcett & Waller, 2011, S. 3ff.).

 Laut Branchenstudien erfüllen Multi-Channel-Systeme, die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Kunden auf allen verschiedenen Kanälen hinweg. Sie bieten durch ihre Integration der Prozesse und Organisation den Kunden ein einzigartiges nahtloses Einkaufserlebnis und das auf jedem Kanal, in dem sie sich befinden. Dabei verfolgen sie eine klar definierte Cross-Channel-Markenidentität. Weiterhin sind ihre Wachstumsstrategien so konzipiert, dass die Kundenbeziehungen so gut wie möglich gepflegt werden (Heinemann, 2017, S. 94).

 Der Multi-Channel-Handel garantiert nicht per se Erfolg. Es kommt auf die sorgsame Steuerung der Kanäle an. Allerding stellt dies eine besondere Herausforderung dar, weil die Offline- und Online-Kanäle nur schwer miteinander zu vergleichen sind. Die Kundenzentriertheit spielt im Online-Kanal eine besondere Rolle. Hier geht es darum, das Kundenverhalten richtig zu erfassen und zu bewerten. Insbesondere weisen die Multi-Channel- Handelsunternehmen eine hohe Erfolgsquote auf, die den Sprung zwischen Alt und Neu bewältigen können und sich den unternehmenskulturellen Herausforderungen gestellt haben (Heinemann, 2017, S. 96).

Aus der maximalen Vernetzung und Integration aller Absatzkanäle des Cross-Channel- Management resultiert der größte Fortschritt des Multi-Channel-Handels, der als No- Line-Systeme bezeichnet wird. Voraussetzung für die Nutzung eines No-Line-System ist der Bestand eines Mobile-Commerce-Kanals, der parallel zum stationären Einkaufen von den Konsumenten genutzt werden kann. Ein No-Line-Händler bietet seinen Kunden zusätzliche Leistungen zum Preisvergleich durch das Scannen des EAN-Codes vor Ort oder auch über den mobilen Shop und erreicht somit das maximale Leistungsangebot des Multi-Channel (Heinemann, 2017, S. 99). Der No-Line-Handel ist die Zukunftsform des Online-Handels und schafft folgende Erfolgsfaktoren (Heinemann, 2017, S. 99ff.):

 1. Erfolgsfaktor: Relevante Multi-Channel-Services bieten digitalisierte und automatisierte Angebote an. Hinsichtlich der „neue Kundenorientierung“ ist es entscheidend dem Kunden einen reibungslosen und nahtlosen Kauf zu ermöglichen. Daher sind Angebote von Multi-Channel-Leistungen besonders wichtig im Hinblick der Digitalisierung im stationären Handel. Die heutigen Servicemöglichkeiten erlauben es beispielsweise, die aktuelle Verfügbarkeit von Produkten in den Geschäften zu prüfen und zu reservieren oder sogar gleich zu bestellen (Click & Collect).

2. Erfolgsfaktor: Die Nutzung mobiler Dienste auf Grundlage des situationsorientierten Mobile-Marketings. Von besonderer Bedeutung sind hier die Location-based Services zu erwähnen (kaufDA, 2015). Ihr Einsatz kann kontextsensitiv erfolgen. Vor allem im Zusammenhang mit CRM und dem situationsorientierten Marketing weisen diese Services ein großes Potenzial auf. Derzeit stellt die mobile Bezahlmöglichkeit sowie die Integration von mobilen Preisen in ein Multi- Channel-Pricing-System, einer der größten Herausforderungen im stationären Handel dar.

3. Erfolgsfaktor: Social- und Cross-Media-Konzepte auf Grundlage eines angemessenen Online-Marketingbudgets, um den Kunden auf allen Kanälen erreichen zu können. Das Smartphone dient hier als Verbindungsglied zwischen Onlineund Offline-Werbung. Somit kann es mit dem Kunden von der Werbebotschaft bis zum Kauf vernetzt bleiben und den Kommunikationsweg begleiten.

 4. Erfolgsfaktor: Das Multi-Channel Customization. No-Line-Kunden erhoffen sich eine personalisierte Bedürfnisbefriedigung und dies über alle Kanäle. Heute kann man bereits sehr einfach individualisierte Marketingmaßnahmen nutzen, die auf Informationen der Eigenschaften, Bedürfnisse und Verhalten des Kunden aufbauen. Das Konzept sich vom Wettbewerb zu differenzieren, Marktanteile zu stärken und zu sichern, kann der Individualisierung von Marketingelementen zugeschrieben werden.

5. Erfolgsfaktor: Nachhaltige Erlös- und Geschäftskonzepte resultieren sowohl aus einem Zusammenspiel der Absatzkanäle als auch aus den Methoden der Umsatzerzielung. Hierbei nehmen die installierten Controlling-Systeme und die Wirtschaftlichkeitsbetrachtung eine Schlüsselrolle ein.

6. Erfolgsfaktor: No-Line- oder Multi-Channel-Organisationen verfahren nach dem Prinzip des Business Reengineering. Die höchste Integration der Kanäle erfordert das frühzeitige Sicherstellen und Prüfen der organisatorischen Bedingungen. Dies wird oft in Multi-Channel-Projekten unterschätzt. Potenzielle Multi-Channel- Organisationen betrachten vor allem die Integrationsfähigkeit sowie die vermehrten Anforderungen durch die Komplexitätssteigerung als kritische Erfolgsfaktoren.

 7. Erfolgsfaktor: Messbare und Moderne Systeme die ein höchstmöglichen Grad an Automatisierung anbieten. Mit Hilfe von nutzerübergreifenden Automatisierungen müssen Übertragungen von Daten an vielen Stellen ermöglicht werden. Aus Kundensicht wird somit der Einkauft sowohl beschleunigt als auch vereinfacht. Auch für den No-Line-Händler ergeben sich Vorteile, beispielsweise wird das Risiko minimiert, dass Hindernisse im Kaufprozess den Kunden vom Kauf abhalten.

 Für den stationären Handel bieten sich durch die No-Line-Systeme enorme Chancen. Allerdings bringen diese auch große Herausforderungen mit sich. Bisher war der stationäre Handel zum größten Teil nicht technisch ausgerüstet und eher lokal orientiert. Durch die Verbreitung des Internets und den neuen teilweise komplexeren Ansprüchen der Kunden, wird die Handelsbranche deutlich mit den technologischen Entwicklungen konfrontiert. Im Jahre 2020 könnte der Umsatz von bestehenden Flächen der Einkaufscenterbetreiber um 10% bis 20% sinken. Möglicherweise werden die Geschäftsformate kleiner oder zum Teil ganz abgelöst (Heinemann, 2017, S. 101).