Ziel der Arbeit war es, die Auswirkungen der Digitalisierung auf mechatronische Produkte aufzuzeigen und herauszufinden, ob deren Produktentwicklungsprozesse den Anforderungen gerecht werden.

Mechatronische Produkte bestehen aus dem synergetischen Zusammenwirken von Mechanik, Elektronik und Informationstechnik. Das daraus resultierende System ist komplex. Die Produktentwicklung solcher Systeme ist aufgrund ihrer Heterogenität geprägt durch unterschiedliche Vorgehensmodelle und -methoden zur Abwicklung dieser komplexen Vorhaben. Dabei zeigte sich, dass ein aktueller methodischer Ansatz zur Komplexitätsbewältigung das modellbasierte Systems Engineering ist.

Dieser, oft auch als „Systems Engineering Philosophie“ bezeichnete, Ansatz interpretiert das Problem auf interdisziplinärer Ebene (Systementwurf) als ein System mit Elementen und Beziehungen, deren Intention es ist, eine konkrete Lösung erst in den einzelnen Fachdisziplinen zu erstellen. Der Ansatz bildet, zusammen mit dem V-Modell der VDI 2206 als Vorgehensmodell und Begleitaktivitäten sowie Querschnittsaktivitäten, den aktuellen Produktentwicklungsprozess im Rahmen dieser Masterarbeit.

Die untersuchten Begriffe „Digitalisierung und Industrie 4.0“ beschreiben im Kontext mechatronischer Systeme eine Veränderung, die auf Basis der zunehmenden Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien erfolgt. Angesichts der ausgedehnten Begriffswelt der Digitalisierung wurde eine Auswahl an Ausführungen zu den Kernelementen getroffen. Demnach basieren die Anwendungspotenziale der Digitalisierung auf folgenden Punkten: der vermehrten Vernetzung, der darauf basierenden Möglichkeit der Datenerfassung, -analyse und des -austauschs sowie der durch die Kombination ermöglichten Kundenzentrierung. Diese drei Aspekte der Digitalisierung finden sich in der Weiterentwicklung mechatronischer Systeme wieder.

Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung wandeln sich mechatronische Systeme hin zu Cyber-physischen Systemen (CPS). CPS sind in der Lage, über Sensoren die Umwelt zu erfassen, Daten über offene Informationsnetze anderen Systemen zur Verfügung zu stellen und selbst durch Aktoren unmittelbar auf Prozesse der physikalischen Welt einzuwirken. Vernetzte Systeme werden zu Systemverbünden, deren Leistungsfähigkeit die Summe der Einzelsysteme übersteigt. Der enorme Softwareanteil der Systeme übernimmt immer mehr Funktionen. Das führt zu einer Verschmelzung von Sach- und Dienstleistungen zu einem integrierten Produkt -Service-System (PSS) und verfolgt damit den Wandel vom Produktanbieter zum kundenzentrierten Lösungsanbieter.

Daraus resultieren neue Herausforderungen für die Produktentwicklung. Die zunehmende Vernetzung und die verstärkte Fokussierung einer integrierten Entwicklung von Sach- und Dienstleistungen steigern die Komplexität und Interdisziplinarität einer Produktentwicklung. Das spiegelte sich insbesondere dadurch wider, dass Service- Engineering- Ansätze zur Dienstleistungsorientierung bei der integrierten Produktentwicklung dazukommen. Eine Dienstleistungsorientierung führt zu Entwicklungsveränderungen auf der Systemebene. Das Modellieren von Anforderungen erfährt eine Wandlung, da Systeme sich zur Leistungserfüllung zu Systemverbünden zusammenschließen und Dienste anderer Systeme nutzen. Andererseits konnte festgestellt werden, dass aufgrund des erhöhten Aufkommens von Entwicklungsdaten ein erweitertes integriertes Datenmanagement die Produktentwicklung umfassend unterstützt.

Bestehende Klassifizierungen und Einordnungen von Produktentwicklungsprozessen führten zur Auswahl eines Referenzprozessmodells für eine Validierung der Anforderungen. Das State-of-the-Art-Referenzprozessmodell Automotive SPICE ist ein in der Praxis angewendetes branchenspezifisches Modell für softwareintensive mechatronische Systeme. Es wurde repräsentativ zur Überprüfung der vorangestellten Forschungsfrage verwendet. Die generisch beschriebenen Prozesse des Referenzmodells sowie die hohen Anforderungen zur Funktionserfüllung aus dem Automobilumfeld trugen zur Auswahl bei.

Die Anforderungen greifen die identifizierten Kernelemente der Digitalisierung sowie die damit zusammenhängenden Ansätze und Problemstellungen einer Produktentwicklung auf. Aufgrund des fokussierten spezifischen Betrachtungskontextes dieser Masterarbeit beziehen sich alle Anforderungen auf Prozesse des interdisziplinären Systementwurfs, wie auch auf Begleit- und Querschnittsaktivitäten.

Die erarbeiteten Anforderungen adressieren die folgenden drei übergeordneten Bereiche:

• die Anforderungserhebung und Analyse, aufgrund der Dienstleistungsfokussierung, sowie dynamischer Änderung von Anforderungen während der Produktlebensphase

• die Systemarchitektur, bedingt durch die Entwicklung von Funktionen, die erst durch einen Systemverbund entstehen, wie auch durch die vermehrte Nutzung einer IT-Infrastruktur

• das integrierte Datenmanagement zur Felddatennutzung innerhalb der Produktentwicklung, das bspw. zur Wissensgenerierung dient. Zudem basieren das Wiederverwendungs- Management und die Produkt-Rekonfiguration auf einem integrierten Datenmanagement.

Die Analyse des Referenzprozessmodells Automotive SPICE führte zum Ergebnis, dass nicht alle Anforderungen abgedeckt werden und somit der aktuelle Produktentwicklungsprozess für mechatronische Systeme den Anforderungen der Digitalisierung nicht gerecht wird – somit deren Potential nicht gänzlich ausschöpft .

 Abschließend kann festgehalten werden, dass die Digitalisierung bestehende mechatronische Produktstrukturen neu definiert und aufgrund dessen geänderte Anforderungen an die Produktentwicklung stellt. Zwei Gründe, die zur Nichterfüllung der Anforderungen führten, sind zum einen die mit der Vernetzung entstehenden neuen Möglichkeiten während der Produktnutzungsphase. Das betrifft Prozesse zur Verwaltung dynamischer Änderungen oder das Verwalten von Felddaten. Zum anderen wird deutlich, dass die bestehende Produktentwicklung mechatronischer Systeme keine integrierte Dienstleistungsentwicklung berücksichtigt. Insofern ist es eine Frage der weiteren Ausgestaltung.

Kritische Würdigung und Ausblick

Im Rahmen der Masterarbeit wurden Auswirkungen der Digitalisierung auf mechatronische Produkte aufgezeigt, um herauszufinden, ob deren Produktentwicklungs-prozesse den Anforderungen gerecht werden. Eine kritische Betrachtung der in Kapitel 4 vorgestellten Anforderungen zur Überprüfung eines Produktentwicklungsprozesses verdeutlicht, dass diese dem Anspruch der Vollständigkeit nicht genügen und subjektiv sind. Das betrifft zwei Bereiche. Erstens werden ein Vorgehensmodell und ein Entwicklungsansatz der Produktentwicklung ausgewählt und als aktuell angenommen, aber Kombinationen anderer Vorgehensmodelle und Ansätze nicht weiterverfolgt. Zweitens werden nicht alle Auswirkungen in genügender Tiefe betrachtet.

Aufbauend darauf wird ein Produktentwicklungsprozess für die Analyse gewählt, der nur einen Geltungsbereich aufweist und nicht repräsentativ ist. Es gibt nicht den einen aktuellen Produktentwicklungsprozess, sondern eine Vielzahl von Prozessen, Vorgehensmodellen und Methoden auf verschiedenen Ebenen, die sich gegenseitig unterstützen. Das Referenzprozessmodell Automotive SPICE dient ebenfalls zur Bewertung der Leistungsfähigkeit von Entwicklungsprozessen. Es ist zwar für eine generische Überprüfung der Thematik geeignet, weist aber eine unkonkrete Prozessbeschreibung auf. Generell weisen Modelle immer eine Verkürzung der Realität auf, was eine Eins-zu-eins- Interpretation oder Umsetzung unmöglich macht. Das spiegelt sich in der durchgeführten Analyse der Prozessanforderungen wider.

Des Weiteren wurden Themen wie „security and safety“ sowie das Verifizieren und Validieren von Systemen in der Produktentwicklung nur unzureichend behandelt und bedarf es einer Konkretisierung.

In Abschnitt 3.2.1 wurden Leistungsstufen Cyber-physischer Systeme vorgestellt. Höhere Leistungsstufen gehen einher mit gesteigerter Produktentwicklungskomplexität . Eine Beschränkung auf eine niedrigere Leistungsstufe führt zu detaillierteren Ergebnissen.

Durch die Digitalisierung verändern mechatronische Systeme sich zu Cyber-physischen und prägen den Produktentwicklungsprozess. Neben veränderten Prozessen beeinflussen neue Methoden und IT-Systeme die Produktentwicklung und verlangen nach weiteren gezielten Forschungen. Zugleich sind Fragen der Umgestaltung einer Produktentwicklung zu klären. Die in dieser Arbeit erwähnten Auswirkungen setzen eine Verknüpfung verschiedener Methoden, Ansätze sowie eine Systemlandschaft zur Entwicklung voraus. Demnach kann keine losgelöste Implementierung der Prozesse oder IT-Tools erfolgen.

Die im Zeitraum der Masterarbeit veröffentlichten Studien, Forschungspaper480 und die überarbeitete VDI-Richtlinie481 zeigen die Aktualität sowie den Änderungsbedarf in der Produktentwicklung. Das im Rahmen der Arbeit erzielte Ergebnis verdeutlicht dies und bildet eine Basis für weiterführende Betrachtungen der zukünftigen Produktentwicklungsprozesse.  

Anhang 1 Produkt-Service-Systeme: Entwicklungsprozessmodell
nach Müller und Stark