In diesem Kapitel wird eine einheitliche Begriffsbasis des Produktentwicklungsprozess es dargelegt. Zunächst wird der zentrale Begriff der Produktentwicklung erläutert und definiert, um dann eine Einordnung des Produktentwicklungsprozesses vorzunehmen. Daraufhin werden Methoden und Modelle erklärt, da Vorgehensmodelle, Produktentwicklungsmodelle und Referenzprozessmodelle der Produktentwicklung auf ihnen basieren. Abschließend wird auf die aktuelle Produktentwicklung eingegangen, indem diese anhand eines Ansatzes und anhand von Vorgehensmodellen erläutert wird. Diese Ausführungen stellen gleichzeitig den für die Masterarbeit festgelegten aktuellen mechatronischen Produktentwicklungsprozess dar.

Definition und Einordnung

Aufgrund der Uneinigkeit hinsichtlich der Begriffe sowie des damit verbundenen Verständnisses erfolgt zunächst eine terminologische Einordnung.

Terminologie: Produktentwicklung

 Es herrscht Uneinigkeit bezüglich des Begriffs Produktentwicklung. So setzen EIGNER ET AL. den Begriff der Produktentwicklung mit dem Begriff Produktentstehung gleich und merken an, dass dies viele andere Fachautoren41 ebenso tun.42 Um die aktive Rolle des Ingenieures in dem Prozess besser wiederzugeben, nutzen EHRENSPIEL UND MEERKAMM den Begriff Produkterstellung. Sie führen ebenfalls an, dass in der Praxis Begriffe wie Auftragsabwicklung, integrierte Produktion oder gesamter Geschäftsprozess verwendet werden.43 Je nach Branche oder Produktart wird bei der Produktentwicklung auch von einem Kerngeschäftsprozess, also von Geschäftsprozessen mit hohem Wertschöpfungsanteil, gesprochen.44 In der vorliegen Masterarbeit wird der Begriff der Produktentwicklung mit dem des Produktentwicklungsprozesses gleichgesetzt.

Der Produktentwicklungsprozess

 Das Verständnis der Produktentwicklung ist vielfältig. So umfasst die Produktentwicklung nach GRABNER die „Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten, die auf die Schaffung eines neuen oder verbesserten Produktes oder Prozesses gerichtet sind.“45 Ebenfalls bezeichnet die IANG den Engineering-Aspekt als „kreative Anwendung von wissenschaftlichen und mathematischen Erkenntnissen.“46

EIGNER ET AL. betrachten bei ihrer Definition die Produktenwicklung als integriert und multidisziplinär und beschreiben, dass die Produktenwicklung alle Tätigkeiten und Disziplinen beinhaltet, die das Produkt, die Produktion, den Betrieb und die Entsorgung umfassen. Sie führen an, dass ebenso der Produktlebenszyklus und die Zulieferketten dazugehören.47

 Damit greifen EIGNER ET AL. die Aspekte der integrierten Produktentwicklung auf. Abbildung 2 zeigt den physischen Produktlebenszyklus im Zusammenhang mit dem Gesamtentwicklungsprozess. Ebenso ist der Teil der Entwicklung des Produktentwicklungsprozesses hervorgehoben, den diese Masterarbeit fokussiert.  

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass heutige Produktentwicklungsprozesse den Produktlebenszyklus integrieren und eine interdisziplinäre Rolle im Unternehmen einnehmen. Im Rahmen dieser Masterarbeit wird im besonderen Maße der Produktentwicklungsprozess betrachtet und nachfolgend erörtert.

Die im Grundlagenwerk von PAHL/BEITZ geprägte Beschreibung Produktentstehungsprozesses geht von einer arbeitsteiligen Entwicklung und Konstruktion aus. So entsteht ein Produkt in mehreren, aneinandergereihten einzelnen Arbeitsschritten, deren Abfolge nach EN ISO 9000 2005 als Prozess49 bezeichnet wird. OERDING ergänzt zu der obigen Definition des Begriffes, dass es bei diesen oft definierte Zustände und Zeitpunkte gibt, die genutzt werden können, um eine Wenn-dann-Beziehung vorzuschreiben. Fasst man alle Prozessschritte zusammen, also die Arbeitsschritte von der Produktidee bis zum fertigen Produkt, wird dies als Produktentwicklungsprozess bezeichnet.50

ABRAMOVICI setzt sich mit den neueren Aspekten der Produktentwicklung auseinander. Er führt auf, dass die Produktentwicklung mehr als nur ein reines Engineering ist.51 So sind die Materialflussprozesse und die kaufmännischen Prozesse immer stärker mit dem Entwicklungsprozess verzahnt. Durch zunehmend vorhandene Informationsflüsse von physischen Produkten werden innerhalb des Entwicklungsprozesses auch Materialflussprozesse schon im Voraus geplant.52.

 Deckungsgleich mit den Aussagen von EIGNER ET AL. fassen ABRAMOVICI UND HERZOG zusammen, dass es sich bei Entwicklungsprozessen um die „technisch-orientierten Planungs-, Definitions-, Konzeptions-, Dokumentations- und Simulationsprozesse von Produkten und Services im gesamten Produkt – sowie Service-Lebenszyklus“ handelt, was bedeutet, dass der Produktentwicklungsprozess primär als Informationsprozess verstanden werden kann.53 Die Masterarbeit basiert auf diesem Verständnis des Produktentwicklungsprozesses. Auch wenn die zu erstellenden Informationen im Detail sehr unterschiedlich sind, so liegen jedem Produktentwicklungsprozess generische Bausteine zugrunde.54

Methoden und Modelle

Methoden

Methoden beschreiben das planmäßige Vorgehen zum Erreichen eines gewissen Ziels. Sie beinhalten alle nötigen Abfolgen von bestimmten Tätigkeiten, um das Ziel zu erreichen. 55,56

Im Allgemeinen bieten Methoden einen unterstützenden Charakter, um strukturiert vorzugehen. In der Produktentwicklung wurde die Methodik eingesetzt, um die Arbeit des Konstrukteurs begreifbar und optimierbar zu machen.57 Das führte dazu, dass Konstruieren lehrbar und als Konstruktionsmethodik an Universitäten vermittelt wurde, schreiben EHRLENSPIEL UND MEERKAMM.58 Ein heutzutage geläufiger Begriff ist die Entwicklungsmethodik. Sie beschreiben den weitverbreiteten Ansatz der Integrierten Produktenwicklung. 59

Erfahrungen aus der industriellen Praxis zeigten, dass aufgrund der Komplexität, ein intuitives Verhalten des Menschen nicht mehr zur effektiven Bewältigung einer Entwicklungsaufgabe genügt.60 Methoden stellen Hilfsmittel dar, um die komplexen Sachverhalte, besser handhaben zu können. Arbeitsmethoden in der Produktentwicklung können herangezogen werden, um Zielkonflikte zu erkennen, Handlungsschwerpunkte herauszuarbeiten oder Denkbarrieren zu überwinden. Insgesamt helfen Methoden, Risiken innerhalb einer Produktentwicklung zu minimieren und definierte Ziele zu erreichen. 61

Eine nicht zu unterschätzende Konsequenz ist der Mehraufwand bei einer Methodeneinführung und –anwendung. Um den erfolgreichen Einsatz von Methoden in der Produktentwicklung richtig abschätzen zu können, wurde das Münchener Methodenmodell entwickelt. 62 Heutzutage hängen mit Methoden auch oft IT-Werkzeuge zusammen, deren Investition, Anschaffung und Einführung (Integration oder Schulung) ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Durch Leistungs- und Nutzenbewertung wird versucht, die Vorteilhaftigkeit und Handlungsalternativen miteinander zu vergleichen.63 Es existiert eine gewisse Begriffsüberschneidung bei den Themen Methoden und Prozesse, da beide Begriffe einen festlegenden Charakter haben und in der Produktentwicklung benutzt werden.64 Zur Unterscheidung rät OERDING, dass Prozesse Zustände von bestimmten Zeitpunkten vorgeben und so das Voranschreiten definieren. Methoden wiederum dienen der direkten Unterstützung bzw. Hilfestellung, um zu einem Ergebnis zu gelangen.65

Modell

Der Modellbegriff kann in einen systemischen und einen allgemeinen Modellbegriff unterteilt werden. 66 Der allgemeine Modellbegriff wird durch ZAFIROV wie folgt definiert:67 „Ein Modell ist ein Abbild bzw. Vorbild für ein System oder einen Prozess.“ Diese Definition bezieht sich auf die weitverbreitete Definition von STACHOWIAK68 und charakterisiert ein Modell mit drei Merkmalen. Demnach ist jedes Modell ein Abbild oder Vorbild (Abbildungsmerkmal), hat einen bestimmten Verwendungszweck (pragmatisches Merkmal) und besitzt einen abstrahierten Umfang (Verkürzungsmerkmal).69 Modelle mit ihren Merkmalen finden in der Produktentwicklung ebenso Anwendung. So abstrahieren und reduzieren beispielsweise Vorgehensmodelle die (Entwicklungs-) Realität und geben sie für einen vorher definierten Zweck wieder.70 KRCMAR verdeutlicht dies basierend auf STEINMÜLLER und führt an, dass Modelle vom Erzeuger und auf dessen Blickwinkel, Belange und Abbildungsregeln zugeschnitten sind.71

Der systemische Modellbegriff ist durch die Betrachtung und Gestaltung des Modellierers geprägt und wird gegenüber dem allgemeinen Modellbegriff als Erstellung von etwas Neuem gesehen. Beide Modellbegriffe haben die Funktion, dass sie einen relevant en Realitätsausschnitt abbilden.72

 Modelle spielen in der Produktentwicklung eine wesentliche Rolle. Der Problemlösungsprozess einer Entwicklung basiert darauf, die Realität mit einem Systemverständnis zu strukturieren (vgl. Systems Engineering Abschnitt 2.2.4). Dadurch ist es möglich, ein Abbild der Realität (Verkürzungsmerkmal) d. h. ein Systemmodell zu entwickeln.73 Eine weitere Form von Modellen ist das Referenzmodell, auf dieses wird im Kapitel 4.1 eingegangen.

Vorgehensmodell

Im Kontext der allgemeinen Modelltheorie nach STACHOWIAK können Methoden und Prozesse als Vorgehensmodelle betrachtet werden.74 Wie alle Modelle sind Vorgehensmodelle informationsreduzierte Abbilder der Realität mit einem bestimmten Zweck.75 Das Vorgehensmodell ist nach EIGNER ET AL. definiert als das „Zusammenwirken von Prozessen, Methoden, Werkzeug und Umgebung.“76 LINDEMANN stellt den Prozessgedanken von Vorgehensmodellen in den Vordergrund. Er sieht Vorgehensmodelle als Hilfsmittel für die Orientierung bei aktuellen, zukünftigen und abgeschlossenen Prozessen. Durch diese festgesetzte Zielorientierung werden Prozesse effektiver und effizienter.77 Der Prozess der Produktentwicklung kann mittels Vorgehensmodell in verschiedene Phasen gegliedert werden. Phasen sind eindeutig gekennzeichnet und stellen abgeschlossene Teilaufgaben dar.78,79 Kritisch dazu steht HELLIGE mit seiner Meinung. Er führt an, dass Vorgehensmodelle der Elektrik-, Mechanik- sowie der Softwareentwicklung der Designkomplexität und Kreativität entgegenwirken und primär auf Standardisierung und Prozessrationalisierung zielen. 80 Dementsprechend, nach der Definition von EIGNER ET AL.EIGNER ET AL. , setzen Vorgehensmodelle entsprechende Methoden und Prozesse sowie Werkzeuge und eine geeignete Umgebung voraus. Nachfolgend werden demnach aktuelle Produktentwicklungsprozesse erörtert, diese basieren auf einem Vorgehensmodell und verschiedenen Methoden.

Aktuelle Produktentwicklungsprozesse

Im Rahmen des Prozesses der Produktentwicklung sind zahlreiche Methoden, Ansätze und Modelle entstanden. Diese sollen die Entwicklungsarbeit strukturieren und dem Entwickler bei seiner operativen Entwicklungsarbeit, aber auch das Management bei der Planung unterstützen.81. WYNN UND CLARKSON identifizierten in einer ausgiebigen Recherche unterschiedliche Arten von Prozessmodellen und ordneten diese ein (das Ordnungsschema befindet sich im Anhang 2, Abbildung A- 2).82

Nachfolgend sollen einige aktuelle etablierte Produktentwicklungsprozesse vorgestellt werden. Zunächst wird der damals entstandene Integrationsansatz aufgezeigt, dieser findet sich aufgrund der Interdisziplinarität wieder. Im Anschluss werden Ansätze sowie die Virtuelle Produktentwicklung kurz vorgestellt. Abschließend wird die VDI-Richtlinie 2206 für mechatronische Systeme erörtert, diese wird stellvertretend für den aktuellen Produktentwicklungsprozess verwendet.

 Der Produktentwicklungsprozess ist zunehmend interdisziplinär gestaltet, da moderne technische Systeme immer auch mechatronische Systeme sind.83 GEISBERGER UND BROY betonen, dass die Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnik von der klassischen isolierten Produktentwicklung hin zu einer integrierten führe.84 Einer der bekanntesten Integrationsansätze ist die integrierte Produktentwicklung. Dieser allgemeine Ansatz ist aufgrund seines hohen Abstraktionslevels für alle Unternehmensbere iche für beliebige Produktarten anwendbar und hat das Ziel, arbeitsteiliges Vorgehen im Unternehmen zu überwinden.85 Ein prominentes Beispiel ist die integrierte Produktentwicklung nach EHRLENSPIEL, die bei der Entwicklung Iteration und Rekursion vorsieht, um zur bestmöglichen Lösung zu gelangen.86 Die interdisziplinäre Zusammenarbeit aller Beteiligten umfasst alle Schritte: von der Ideenfindung bis zur Fertigungsfreigabe eines Produktes.87

Das Rahmenkonzept VDI 2221 ist als Synthese der deutschsprachigen Konstruktionsforschung entstanden und bildet ein weitverbreitetes Rahmenkonzept für alle Phasen des Konstruktionsprozesses.88 Die 2018 überarbeitete Version beinhaltet Grundlagen der methodischen Entwicklung und stellt in einem interdisziplinären Modell zentrale Ziele und Aktivitäten sowie Arbeitsergebnisse dar. Das Modell richtet sich an alle Arten von technischen Systemen und kann an entsprechende Branchen, Produktarten oder Stückzahlen angepasst werden. Der Ansatz teilt den Entwicklungsprozess in generische Aktivitäten auf, die auch parallel bearbeitbar sind. Dadurch entstehen individuelle kontextspezifische Entwicklungsprozesse. Ergebnisse der Aktivitäten werden entsprechend dem gesamten Prozess mit den weiterentwickelnden Anforderungen sukzessive abgeglichen bzw. weiterentwickelt.89

 Ein ganzheitliches Rahmenwerk zur Erfassung und Unterstützung bildet das integrierte Produktentstehungsmodell (iPeM) nach ALBERS. Das Metamodell wurde von Grundlagen der Systemtheorie und des Systems Engineering hergeleitet. Dabei beschreibt das Modell die Produktentstehung durch drei miteinander in Wechselwirkung stehende Systeme nach ROPHOL.90 Demnach lässt sich eine Produktentstehung als die „Überführung eines (anfangs vagen) Zielsystems in ein konkretes Objektsystem durch ein Handlungssystem beschreiben.“91 Der Umfassende Ansatz betrachtet die Produktentwicklung als System und beinhaltet Makroaktivitäten über den ganzen Produktlebenszyklus. Alle Aktivitäten sind in einer Matrix zusammengefasst. Gleichzeitig werden in dem Modell Bedürfnisse individueller Personen berücksichtigt, zum Beispiel bei der Handhabung spezieller technischer Problemstellungen.92 Dieses Rahmenwerk bildet einen umfassenden Ansatz für die Produktentwicklung, welches durch Integration angrenzender Forschungsfelder ständig weiterentwickelt wird. Für weiterführende Literatur sei auf die Arbeiten von ALBERS UND BRAUN verwiesen.

Ende des 20. Jahrhunderts entstand das 3-Zyklen-Modell der Produktentstehung nach GAUSEMEIER; das Modell umfasst die drei Zyklen: die strategische Produktplanung, die Produktentwicklung und die Produktionssystementwicklung. In dem Modell werden auch die Zusammenhänge der einzelnen Zyklen betrachtet, dies zeigt sich besonders in der integrierten Entwicklung von Fertigungsprozessketten und Produktionssystemen. Damit fokussiert der Ansatz, dass alle Optionen der Gestaltung bezüglich Kosten und Funktion ausgeschöpft werden.93

Richtlinie VDI 2206

Tätigkeiten der Produktentwicklung für mechatronische Systeme sind in der Richtlinie VDI 2206 beschrieben. Die Richtlinie beinhaltet einen Problemlösungszyklus auf Mikroebene, Prozessbausteine für die Wiederverwendung von Arbeitsschritten und das V-Modell auf einer Makroebene als Vorgehen.94 ABRAMOVICI führt an, dass heutige Forschungsund Industrieaktivitäten sich mehrheitlich nach dem V-Vorgehensmodell richten.95 Die Richtlinie wird anhand des V-Modells in Abschnitt 2.2.5 genauer erörtert und bildet die Grundlage weiterer Untersuchungen.

Die Virtuelle Produktentwicklung (VPE) ist durch eine durchgehende rechnerinterne Modellbildung gekennzeichnet mit dem Ziel der Weiterverwendung dieser Modelle für Simulation, Validierung und Verifikation.96 Bedingt durch den Einsatz von Softwarewerkzeugen werden virtuelle Modelle der Komponenten (Mechanik, Elektronik) sowie Verfahrensmodelle erstellt. Diese realitätsnahen Abbilder von Produkten bzw. Komponenten können durch Simulationen frühzeitig getestet und validiert werden.97 Durch Modellierungssprachen wie UML98 oder SysML99 werden grundsätzliche Informationen, wie z. B. Anforderungen, Funktionen und Verhalten in Modellen festgehalten. Für die simulierbare Beschreibung von den physikalischen und mathematischen Eigenschaften kommen spezifische IT-Werkzeuge zum Einsatz, typische Systeme sind etwa MATLAP/ Simulink. 100 Die modellbasierte Entwicklung ist zentraler Bestandteil der virtuellen Produktentwicklung und ist das Bindeglied zwischen der mechatronischen Entwicklung und dem Systems Engineering (siehe nachfolgenden Abschnitt 2.2.4).101 SENDLER kritisiert, dass durch den Einsatz von IT-Tools die Produktentwicklung sowie deren Fachbereiche seit Jahren zunehmend modellbasiert arbeiten. Gleichzeitig kritisiert er, dass in der Regel die Modelle nur von dem Fachbereich und meist auch nur für den Unternehmensbereich nutzbar und zugänglich sind.102

Produktentwicklungsprozess begleitende Prozesse

Begleitende und unterstützende Prozesse haben sich sehr individuell entwickelt, da Ausprägung und Inhalte stark von der Branche, Stückzahlen und Art der Produktentwicklung abhängen.103 In operativen Ablauforganisationen stellen Begleitprozesse den Rahmen für die Kernaktivität der Entwicklung und sind somit abhängig vom jeweiligen Entwicklungsprojekt. Grundlegende begleitende Prozesse sind das Projektmanagement , Änderungs-Management, Konfigurations-Management, Risikomanagement, Dokumentationsmanagement und das Wiederverwendungsmanagement. Querschnittsaktivitäten sind projektunabhängig und bilden einen grundlegenden strategischen Rahmen. Dazu zählen Wissensmanagement, Variantenmanagement, Technologiemanagement und Innovationsmanagement. Im Rahmen dieser Arbeit wird von einer einzelnen Ausführung der Prozesse abgesehen, da sie nicht im Fokus stehen.

Das Produktdatenmanagement (PDM) beschreibt das Verwalten von „produktdefinierenden Daten in Verbindung mit der Abbildung und dem Management von technisch/organisatorischen Geschäftsprozessen.“104 Eine auf den Produktlebenszyklus erweiterte Lösung stellt das Produkt-Lifecycle-Management (PLM) dar. Eine weitere Produktentwicklungsprozess- Ergänzung ist das „Design-to-X“. Vorgehensmodelle unterliegen oft den Einflüssen und Entwicklungszielen. Restriktionen können als „Design-to-X“-Prinzipien adressiert werden. Diese Prinzipien sind Schwerpunktziele, nach denen sich während der Entwicklung gerichtet wird. Dies ermöglicht insbesondere bei Neuentwicklungen ein zunächst die Funktion erfüllendes Entwickeln, während andere „Desgin-to-X“ Prinzipien, wie Gewicht oder Kosten, nachträglich optimiert werden.105

Nach LEMKE ET AL. ist eine der größten Herausforderungen im Rahmen der Digitalisierung die Komplexität in der Produktentwicklung.106 Ein vielversprechender Ansatz der Systemgestaltung und Komplexitätsbeherrschung ist das Systems Engineering, das nachfolgend beschrieben wird.107

Systems Engineering

Früher wurden Systeme als voneinander getrennte Skizzen und Dokumente beschrieben. Heutzutage werden hierfür verschiedene Modelle mit Referenzen untereinander erstellt. Methoden des Ansatzes Systems Engineering (SE) unterstützen hierbei. Zusammen mit Systemmodellierungssprachen wie beispielsweise SysML, wird von model-based Systems Engineering (MBSE) gesprochen.108

Das INTERNATIONAL COUNCIL ON SYSTEMS ENGINEERING (INCOSE) definiert das Systems Engineering: 109 „Systems Engineering ist eine Disziplin, deren Aufgabe die Erstellung und Ausführung eines interdisziplinären Prozesses ist, der garantieren soll, dass Kunden – und Stakeholder-Anforderungen qualitativ hochwertig, zuverlässig, kostengünstig und in vorgegebener Zeit über den gesamten Produktlebenszyklus erfüllt werden können.“ Eine Grundphilosophie des Systems Engineering ist nach WINZER der Systemcharakter. Menschen und alles, was sie umgibt, ist als System zu betrachten und lässt sich somit beschreiben.110 Das Systems Engineering ist ein Ansatz aus der Luft- und Raumfahrt, um komplexe Produkte (=Systeme) zu entwickeln. Dieser Ansatz ist klassisch dokumentenbasiert, wurde aber aus Sicht der Software- und Elektronikindustrie permanent ausgebaut und gibt heute Simulations- und Modellierungsunterstützung stark vernetzter Systeme. Das Systems Engineering besteht aus Komponenten zur Problemlösung und einer damit verknüpften SE-Philosophie. 111

HABERFELLNER UND BECKER beschreiben in ihrem universellen Problemlösungsansatz das Problem als Differenz zwischen einem vorhandenen Zustand und einem Soll-Zustand. SE soll helfen, die unklare Differenz, die unterschiedlichen Einflussfakt oren und Wertvorstellungen, die das Problemverständnis beeinflussen, auf geordnete Art zu erfassen. Der Problemlösungsprozess112 besteht aus zwei gedanklich getrennten Komponenten: der Systemgestaltung als konstruktiver Arbeit und dem Projektmanagement zur Koordinierung. 113 Das Systemdenken setzt sich aus modellhaften Ansätzen zusammen, um reale komplexe Erscheinungen zu veranschaulichen und Ansätze, die das gesamtheitliche Denken unterstützen. Die SE-Philosophie dient als Leitfaden zur Problemlösung. Dem SE-Vorgehen liegen vier Gedanken zugrunde. Dabei ist vom Groben zum Detail vorzugehen, das Prinzip des Denkens in Varianten ist anzuwenden, die zeitliche Gliederung der Systementwicklung ist zu beachten und eine formale Arbeitslogik der Problemlösung soll bedient werden.114 Die Aufgabe des Entwicklers ist es, das Problem zu lösen und dabei sinnvoll vorzugehen.115 Trotz Vorgaben, die aus den Anforderungen an das Produkt gestellt werden, bleibt ein Lösungsraum, d. h es gibt mehrere Lösungen, deren Auswahl dem Entwickler obliegen.116 Komplexität und Lösungsraum der Aufgabenstellung verlangen ein iteratives Vorgehen und sind fester Bestanteil vieler Vorgehensmodelle der Produktentwicklung. Iterationsschleifen können Aktivitäten oder komplette Prozesse mehrmals durchlaufen.117

Problemlösungszyklen können nach DANZER & HUBER in drei Hauptschritte unterteilt werden. Diese beinhalten Situationsanalyse, Zielformulierung, Lösungsfindung (als Analyse und Synthese, diese können mehrmals abwechselnd durchlaufen werden) und Bewertung der Lösung.118 Der Soll-Zustand wird durch das Requirements Engineering spezifiziert, mit der Aufgabe vielfältige Verhaltens-, Qualitäts- und Integrationsanforderungen festzuhalten und zu verwalten.119 RUPP definiert Anforderungen als eine „Aussage über eine Eigenschaft oder Leistung eines Produkts, eines Prozesses oder der am Prozess beteiligten Personen“.120  

Die häufigste Form von Anforderungen in der Praxis ist die dokumentenbasierte in natürlicher Sprache. Aufgrund der mangelnden Eindeutigkeit der Beschreibungen wurden Satzschablonen als Syntax-Hilfsmittel kreiert, die bei der Formulierung von Anforderungen verwendet werden. Modellbasierte Dokumentationen von Anforderungen visualisieren unter Verwendung spezifischer Notationen (z. B. UML) relevante Informationen.121 Unumgänglich ist aufgrund der steigenden Komplexität, das Nutzen von Methoden und Werkzeugen zur Erfassung und Verwaltung von Anforderungen.122 Modellbasierte Methoden und Werkzeuge haben in der Softwareentwicklung eine lange Tradition und dienten ursprünglich der formalen Verifikation, der Korrektheit der Software. Heutzutage werden Modelle als technologieunabhängige Träger von Informationen für alle Aspekte der Entwicklung genutzt.123

Das MBSE hat das Ziel einer Erstellung eines vollständigen Domänenmodells, das den Informationsaustausch nicht mehr dokumentenbasiert durchführt, sondern Systemmodelle als Mittel verwendet und Abhängigkeiten aufzeigt.124 Das bedeutet, dass die „Anforderungserfassung, Entwicklung, Verifikation und Validierung eines Systems, beginnend von der Konzeptphase über die Entwicklungsphase bis zu späteren Lebenszyklusphasen“ über eine formalisierte Modellbildung abgewickelt wird.125 Das MBSE wird durch ein zentrales Systemmodell verwaltet. Dieses kann direkt auf den Anforderungen aufbauen und durch alle Entwicklungsdisziplinen weiterentwickelt und validiert werden. Dies bringt viele Vorteile mit sich, aber auch Fragen bezüglich der Verkürzungsme rkmale, die Modelle mit sich bringen.126 Das Systems Engineering stellt einen geeigneten Ansatz zur Komplexitätsbewältigung dar und kann Anwendung in verschiedenen Produktentwicklungsprozessen finden. Nachfolgend wird das V-Modell genauer betrachtet.

Das V-Modell

Der mechatronische Entwicklungsprozess wird durch Vorgehensmodelle unterstützt. Das V-Modell unterteilt die Entwicklung in Systementwurf, den spezifischen Entwurf in den Disziplinen sowie in die Systemintegration mit begleitender Modellbildung.127,128 Das V-Modell diente immer wieder als Vorlage für Ableitungen bzw. Konkretisierungen von Vorgehensmodellen der Produktentwicklung.129 Ursprünglich aus der Softwareentwicklung entlehnt wurde es an die Anforderungen der Mechatronikentwicklung angepasst und ist in der Richtlinie VDI 2206 beschrieben.130,131 Bestandteile des Modells werden nachfolgend beschrieben (vgl. Abbildung 3).

Anforderungen werden aufgenommen und definiert und bilden die Grundlage der Entwicklung.   Zudem dienen sie als Maßstab der Bewertung des späteren Produkts. Der   Systementwurf (Systemebene) hat das Ziel, disziplinübergreifend den prinzipiellen   Aufbau und die Wirkungsweise eines zu entwickelnden Systems zu beschreiben. Das   Lösungskonzept beinhaltet die Gesamtfunktion des Systems, die in Teilfunktionen heruntergebrochen   wird. Diese Teilfunktionen werden Lösungselemente bzw. Wirkprinzipien   zugeordnet, deren Funktionserfüllung im Systemzusammenhang zu prüfen sind.133   Im domänenspezifischen Entwurf werden Lösungsansätze konkretisiert und entsprechende   Arbeitsschritte zur Sicherung der Funktionserfüllung ausgeführt. Die   Systemintegration dient der Absicherung der integrierten ausgearbeiteten Lösungen   und führt zum Gesamtentwurf. Durch die Eigenschaftsabsicherung wird anhand der   Anforderungen das spezifizierte Lösungskonzept validiert. Das Vorgehensmodell sieht   eine fortlaufende Modellbildung und -analyse vor. In der Regel finden Iterationen des Makrozyklus statt und führen zum Ergebnis der vollständigen Produktbeschreibung.   134,135  

Das Vorgehensmodell sieht das Formulieren von Prozessbausteinen für wiederkehrende   Arbeitsschritte bei der Entwicklung vor.136 Durch verschiedene Abstraktionsebenen wird   das Verhalten von Systemen mit der geforderten Genauigkeit beschrieben und modelliert.   137 Hier kommt auch das Grundprinzip der Projektion zur Anwendung, was bedeutet,   dass der Blick (die Sicht) auf das System je nach Fragestellung und Situation erfolgen   kann.138 Kritische Meinungen der Richtlinie beziehen sich auf die nur unzureichende   Beschreibung zur Handhabung von Anforderungen.139  

Zusammengefasst ist der Kern des Modells der Systementwurf. Dieser umfasst Planungsansätze,   Anforderungsspezifikations- und Anforderungsmanagement, Funktionsdefinition   und -modellierung sowie Produktarchitekturansätze. Die Produktarchitekt ur   fasst die Produktstruktur (physischer Aufbau) und die Funktionsstruktur (funktionale   Beschreibung) eines Produktes zusammen und stellt deren Elemente in Beziehung.140   Eine Architektur kann als Modell aufgefasst werden und beschreibt relevante Bestandteile   auf hoher Abstraktionsniveau.141