Das für die Analyse ausgewählte Referenzprozessmodell Automotive SPICE453- (aSPICE) in der Version 3.1 ist State of the Art. Der empirische Nutzen wird anhand des langjährigen Einsatzes bei vielen Automobilherstellern, Zulieferern, Entwicklungs- und Consultingpartnern der Automobilbranche deutlich.

Der Standard Automotive SPICE ist ein in der Automobilindustrie etablierter Rahmen, der sich auf die Verbesserung von Entwicklungsprozessen für softwareintensive Systeme konzentriert. Es handelt sich um eine domänenspezifische Variante der ISO/IEC- 330xx-Serie und ist Nachfolger des internationalen Standards ISO/IEC 15504.454 Die in Abschnitt 4.1 aufgeführten Einordnungsmerkmale zeigen, dass neben der eigentlichen, kontextspezifischen Problemlösung einer Produktentwicklung viele weitere Aspekte den Entwicklungsprozess prägen, wie beispielsweise Komplexität, iteratives Vorgehen sowie Begleit- und Querschnittsaktivitäten. Diese werden von dem aSPICE-Referenzmodell abgedeckt, indem beispielsweise das Konzept des Systems Engineering (SE) anwendbar ist. Bewährte Praktiken wurden nach dem Best-practice-Prinzip zusammengefasst mit dem Ziel, ein mechatronisches Produkt zu entwickeln, und beschreiben im Gegensatz zu konkreten Vorgehensmodellen nur das, was zu tun ist, in Form von Zielen. 455 Dies gewährt eine Vergleichbarkeit, da kein spezifisches zu entwickelndes System betrachtet werden soll. Ein Bezug zu bestimmten Methoden oder Softwaretools ist ebenfalls nicht vorhanden. Im Ordnungsrahmen nach WYNN UND CLARKSON lässt sich das Referenzprozessmodell als Makro und prozedurales Modell einstufen.456 Der Prozessfokus auf softwareintensive457 mechatronische Systeme unterstreicht die Aktualität458. Ebenfalls begünstigt die hohen Anforderungen aus der Automobilumfeld die angestrebte Überprüfung.

Der aSPICE-Standard beinhaltet ein Prozessassessmentmodell (PAM) und ein Prozessreferenzmodell (PRM). Das Prozessassessmentmodell dient der Bewertung (Assesment ) von etablierten Unternehmensprozessen zur Bestimmung der Prozessfähigkeit bezüglic h der Produktentwicklung.459 Sogenannte Reifegradmodelle (Maturity Level) ermöglichen eine Einschätzung und Vergleiche mit anderen Unternehmen. Die Automobilindust rie verwendet Reifegradmodelle, um die Erfüllung von Vorgaben seitens des Kunden, des Auftraggebers und des Gesetzgebers sicherzustellen.460 Referenzmodelle ermöglichen die Vergleichbarkeit, die von Kunden, Auftraggebern und vom Gesetzgeber durch normative Anforderungen an den Produktentwicklungsprozess abgesichert wird.461

Wie in Abbildung 11 zu sehen ist, sind die einzelnen Prozessgruppen nach dem V-Modell (siehe Abschnitt 2.2.4) aufgebaut, das heißt, jeder Prozess der linken Seite ist einem Validierungs- bzw. Testprozess auf der rechten Seite zugeordnet.462 Die „System Engineering Process Group“ (SYS) befindet sich auf dem „System level“ und dient der Anforderungserhebung und -analyse sowie zur Erstellung der Systemarchitektur. Auf dem „Domain level“ (z.B. „Software Engineering Process Group“) finden sich domänenspezifische Prozesse, die ausgehend von der Systemarchitektur domänenspezifische Komponenten bearbeiten.463   

Das Prozessreferenzmodell aSPICE deckt den ganzen Produktlebenszyklus ab, indem alle Prozesse drei Prozesskategorien zugeordnet sind: „Primary Life Cycle P rocesses“, „Organizational Life Cycle Processes“ und „Supporting Life Cycle Processes“. Jede Prozesskategorie besteht aus einer Prozessgruppe, die das Entwicklungsvorhaben einteilt.464 Zum Beispiel sind unter dem Organisations-Lebenszyklus-Prozess die Prozessgruppen Projektmanagement (MAN.3), Risikomanagement (MAN.5) und ein Messprozess (MAN.6.) sowie ein Wiederverwendungs- (REU.2) und Verbesserungsprozess (PIM.3) eingeordnet. Alle Prozesse sollen die Unternehmensziele der Organisation unterstützen.465

Ein wesentlicher Bestandteil ist das auf Entwicklungsprojektebene stattfindende Tailoring. Dabei wird zu Projektbeginn von einer unabhängigen organisatorischen Einheit entschieden, welche Prozesse im Projekt angewendet werden sollen.466,467

Jede Prozessbeschreibung der aSPICE hat einen gleichen Aufbau, der mit Basisprakt iken (base practice) modellhafte Aktivitäten schildert sowie Prozessergebnisse (process outcomes) beinhaltet. Zusammen können diese einen objektiven Nachweis für die Prozesserfüllung darstellen.468 Dokumentation, Nachvollziehbarkeit und Konsistenz sind in der aSPICE fest verankert, was auf inhaltliche Entwicklungsaspekte sowie das Prozessassessmentmodell zurückzuführen ist. In Entwicklungsvorhaben sind digitale Werkzeuge zur Unterstützung zudem unverzichtbar. IT-Tools unterstützen bei der Prüfung der Konsistenz innerhalb der Verweise von Entwicklungsartefakten sowie von deren Versionen, um eine Nachvollziehbarkeit zu garantieren.469

Da es sich um ein interdisziplinäres Entwicklungsvorhaben handelt, ist die Domain-level- Ebene (siehe Abbildung 11) austauschbar. Dieses Plug-in-Konzept gewährleistet abhängig vom Entwicklungsobjekt, dass gegenüber dem Vorgehensmodell domänenspezifische Prozesse (z.B. Hardwareentwicklung) ergänzt werden können. Alle anderen Managementprozesse, wie das Wiederverwendungsmanagement , sind domänenunabhängig und können auf Systemebene wie auch auf Domänenebene angewendet werden.470

Nachfolgend werden Anforderungen, die aus den Auswirkungen der Digitalisierung resultieren, vorgestellt, um diese darauffolgend mit dem Referenzprozessmodell abzugleichen.