Nach einer Studie zur Thematik der Digitalisierung der Produktentwicklung hat jedes dritte Unternehmen im Jahr 2017 seine Investitionen in die Digitalisierung von Entwicklungsprozessen in Form von neuer Hard- und Software erhöht.401 Die Produktentwicklung ist vor allem durch die virtuelle Produktentwicklung geprägt. FELDHUSEN führt an, dass insbesondere die gesteigerte Leistungsfähigkeit der Hard- und Software zu neuen Simulations- und CAD-Systemen (Computer Aided Design) und somit neuen Arbeitstechniken der Entwickler führte.402

Neben den immer besser unterstützenden IT-Tools zur Erleichterung der Entwicklungsaufgaben ist vor allem das Zusammenspiel unterschiedlicher Software für die Entwicklung maßgebend. Die Digitalisierung soll genau dort ansetzten und die klassischen Grenzen der fragmentierten und konkurrierenden IT-Lösungswelt neu ordnen.403 Bezieht man dies auf den Rahmen dieser Masterarbeit führt dies zu der IT-gestützten integrierten Verwaltung von Entwicklungsdaten der frühen Phasen in der Produktentwicklung. Dieser Abschnitt zeigt zunächst Gründe einer Erweiterung des Informationsmanagements auf, um im Anschluss daran ein administratives Konzept zur Bewältigung der Informationskomplexität vorzustellen.

Die Digitalisierung im Kontext der Produktentwicklung bedeutet eine vollständige digitale Beschreibung des zu entwickelnden Produktes. Um dies zu erreichen, werden digitale Modelle für die Beschreibung und die darauf aufbauenden Produktentwicklungsprozesse benötigt.404 Dabei wird der Ansatz des Model-based Systems Engineering (MBSE) zur Modellierung eines Systemmodells angestrebt (vgl 2.2.4). IT-Tools gewährleisten die Verwaltung und Rückverfolgbarkeit der Entwicklungsergebnisse im Rahmen eines Änderungs- und Konfigurationsmanagements.

Aus dem Produktdaten-Management (PDM) entstand das Product Lifecycle Mangement (PLM) als integrierter Ansatz zur ganzheitlichen unternehmensweiten Verwaltung und Steuerung sämtlicher Informationen über den gesamten Produktlebenszyklus.405 Bislang war das PLM vor allem durch die Domäne der Mechanik geprägt und wurde immer wieder erweitert, um neuen Anforderungen wie dem Verwalten von Software gerecht zu werden. So entstanden immer mehr Anwendungen406 neben den Kernkomponenten (Produkt- und Prozessmodell und das darauf basierende Produktdaten- bzw. Prozess-Management), die zu einer PLM-Lösung gehören.407,408

Bei der großen Anzahl an Anwendungen handelt sich es nicht um ein „Out of the Box“- System, sondern eher um eine Lösungsstrategie, die teilweise mehrere IT-Systeme und Prozesse integriert. Daraus resultieren Probleme bei der Abstimmung von Informationen und Prozessen zwischen dem PLM und anderen im Unternehmen etablierten IT-Systemen. 409 Dieses Problem verschärft sich angesichts der zunehmenden Integration der Produktentwicklung. LINDEMANN geht davon aus, dass die Menge an Daten pro Entwicklungsprojekt „explosonsartig“ steigt. Dies resultiert aus der virtuellen Produktentwicklung, Simulationstechnik sowie der Kommunikation verteilter Entwicklungsteams.sch410

Sensorbestückte, vernetzte Produkte produzieren Daten, die während der Lebensphase des Produktes anfallen. Diese stellen eine Quelle für eine Weiterentwicklungen der Produkte dar. Der große Umfang der entwicklungsrelevanten Daten und ihr Nutzenpotential gehen damit weit über die Fähigkeiten bisheriger PLM-Systeme hinaus.411

System-Lifecycle-Management-Konzept

EIGNER ET AL. weisen bei solchen übergreifenden PLM-Lösungen auf den Begriff des System Lifecycle Management412 (SysLM) hin. Dieses soll gängige PLM-Lösungen sinnvoll mit MBSE und Service Lifecycle Engineering kombinieren.413 So entsteht ein durchgängiges „Rückgrat“ (Digital Engineering Backbone), welches „die Rolle der Daten- und Prozessintegration zwischen Produkt – und Produktentwicklung, der Produktion/Fertigung und Montage sowie dem Service“ übernimmt.414

Dabei geht das SysLM-Konzept grundsätzlich von einem interdisziplinären Integrationsansatz aus. Das Produkt wird als vollständiges System, das aus kommunizierenden Komponenten besteht, beschrieben.415 Unterschiedliche Autorensysteme416 werden entlang des gesamten Lebenszyklus direkt oder indirekt mittels TDM417 integriert. In der Forschung wurde die Rückführung von Felddaten418 in den Produktentwicklungsprozess auf Basis von MBSE bereits validiert . Allerdings mangelt es an geeigneten IT-Tools, Informationsmodellen sowie Lösungen zur Implementierung der Daten.419,420

Ähnliche Ansätze zur Beherrschung der Informationskomplexität sind das „bimodale PLM/IT“ von Gartner oder das „Digital PLM“ von Accenture.421 Das SysLM-Konzept stellt eine Lösung dar, um die enorme Informationskomplexität eines Produktsystems über den Lebenszyklus besser zu beherrschen. Die Integration aller relevanten, während der Entwicklung entstandenen Modelle und Beschreibungen des Produktes und der Dienstleistung begünstigt neben der Nachvollziehbarkeit ebenfalls die Erstellung eines digitalen Zwillings.422 Der Systemlebenszyklus von Produkt -Service-Systemen adressiert in besonderem Maße das Konfigurations- sowie Änderungs- und Freigabemanagement, welches ebenfalls hohe Anforderung an die integrierte Lösung stellt.423

Anzumerken ist, dass PLM- sowie SysLM-Ansätze tief in die technische Aufbauorganisation des Unternehmens eingebettet sind und eine Implementierung mit erheblichen Aufwand verbunden ist.424 MÜLLER UND STARK betonen den aktuellen Forschungsbedarf und führen an, dass ein echtes System Lifecycle Management nicht nur eine Frage der IT sei, sondern eher eine Frage der gemeinsamen Vorstellung von kollaborativer Datengenerierung und -nutzung.425 417