Ein Großteil der Funktionalität eines Systems wird weitgehend von der Software bestimmt. Der Hard- und Softwareanteil im Produkt ist entscheidend. Durch eine hohes Mechanik- und Elektrik-Güteniveau können sich neue Funktionalitäten rein durch Software hinzufügen lassen, ohne dass sich auf der Ebene der Hardware etwas ändert. Dies führt zu einem hohen Individualisierungsgrad und Flexibilität. Gleichzeitig können softwarebasierte Funktionen mit den Funktionalitäten anderer Systeme über entsprechende Kommunikationsverbindungen in Beziehung gesetzt werden, um neue Funktionen zu ermöglichen, was im Wesentlichen auf die Software zurückzuführen ist.328,329

Lange Zeit wurde die Mechatronik von der Domäne der Mechanik geprägt. Dies spiegelt sich in vielen Produktentwicklungsmodellen wider. Wie in Abbildung 8 dargestellt, übernimmt heutzutage Software einen immer größeren Anteil an Funktionen.330 Diese Anteilsverschiebung der Einzeldisziplinen hat Folgen für den Produktentwicklungsprozess und für das Begriffsverständnis der Mechatronik.331  

Abbildung 8: Wandlung der Mechatronik332 Quelle: in Anlehnung an ITQ GmbH(2018) So führen EIGNER ET AL.an, dass in den nächsten Jahren mit einer stärkeren Einbeziehung der Softwareentwicklung zu rechnen ist. Bedingt durch die Verschiebung der Varianzanteile der Hardware und Software, wird sich die Komplexität der Produkte teilweise reduzieren, prognostizieren EIGNER ET AL.333 Die Veränderung von Produkt und Produktentwicklung führt zu neuen Wertschöpfungspotentialen und lässt sich auf die Zunahme der Software in Produkten und die rasante Entwicklung der Informationstechnologie zurückführen. 334,335

 GEISBERGER UND BROY kommen zu dem Ergebnis, dass zukünftige Produkte und Geschäftsmodelle einen höheren Anteil an Software und Dienstleistungen haben werden als bisher.336 Sie begründen dies mit der softwarebasierten Differenzierung und Verbesserung der Produkte, welche ebenso Konfigurierbarkeit und Anpassbarkeit mit sich bringt.337 Auch die industrielle Fertigung wird durch den Einsatz von leistungsstarker industrieller Software maßgeblich geprägt und dadurch zum bestimmenden Faktor.338

Die in den vorherigen Ausführungen untersuchten Auswirkungen der Digitalisierung sind geprägt durch Software. Dies spiegelt sich in den Gemeinsamkeiten zwischen Software (SW) und Cyber-physischen Systemen (CPS) wider. Immer mehr Hardware-Funktionalitäten können durch Software ersetzt werden, was dazu führt, dass CPS immer mehr Software-Charakteristiken annehmen. In Abbildung 9 sind Gemeinsamkeiten zwischen Software und CPS dargestellt.339  

Abbildung 9 : Gemeinsamkeiten zwischen Software und Cyber-physischen Systemen
Quelle: in Anlehnung an QUIGLEY UND ROBERTSON

CPS besitzen die Möglichkeit mit der Umwelt und anderen Systemen zu kommunizie ren , was insbesondere auf dem Einsatz von Softwarekomponenten beruht.341 Diese Softwarekomponenten können sich eingebettet oder in einer Internetplattform des Systems befinden und erlauben eine Änderungen an der Produktkonfiguration in der Nutzungsphase des Produktes.342,343 Diese Produkt-Rekonfiguration bedeutet, dass ein bestehendes System modifiziert wird, um veränderten Anforderungen gerecht zu werden.344 Durch Rekonfiguration können technische Verbesserungen oder es kann eine Erweiterung des Funktionsumfanges erfolgen (z.B. die Freischaltung eines IT-basierten Parkassistenzsystems).345 Auch im Rahmen der Industrie 4.0 sollen durch Rekonfiguration flexible Produktionsanlagen entstehen. Bei solchen Systemen bestehen neben der Notwendigkeit der Software-Flexibilität auch Anforderungen an die Hardware-Flexibilität. 346 Grundlagen der Rekonfiguration stellen die Ansätze des Konfigurationsmanagements dar.347 CPS bieten durch die Möglichkeit des kontinuierlichen Monitorings des Systems im Sinne der den Produktlebenszyklus begleitenden Datenerfassung multiple und dynamische Optionen für die Rekonfiguration intelligenter Systeme.348

Zur Bewältigung der Anforderungen, die aus einer dynamischen Rekonfiguration der Systeme während der Produktlebenszeit entstehen, wird auf das Konzept des virtuellen Zwillings (Digital Twin) zurückgegriffen. Die Basis bilden die aus der Produktentwicklung anfallenden Entwicklungsartefakte, wie z.B. Verhaltensmodelle, die in einem Produktlebenszyklusmanagement- System (PLM-System) verwaltet werden, was über ein erweitertes PLM-System geschehen kann (siehe Kapitel 3.3). Aufgrund dynamischer Anpassungen können neue virtuelle Produktmodelle basierend auf vorherigen Versionen einer Produktinstanz generiert werden. Vernetzte physische Produktinstanzen liefern während der Nutzung fortlaufend Daten. Das Management aller virtueller Produktmodelle und Nutzungsdaten virtueller und physischer Produktinstanzen entspricht dem Konzept des virtuellen Zwillings.349

CADET ET AL. bezeichnen die Vision des digitalen Zwillings als semantische Verknüpfung aller relevanten digitalen Artefakte. Dies setze aber ein modellbasiertes System Engineering (siehe Kapitel 2.2.4) voraus, da der digitale Zwilling auf Modellen basiere.350 Ferner ist ein erweitertes integriertes Datenmanagement (vgl. Kapitel 3.3) nötig, welches für die Verwaltung und Verknüpfung der relevanten vorhandenen Entwicklungsmodelle sorgt.351

Die Modelle und deren Kompatibilität zu dem vorigen Modell (bzw. zu den Modellinstanzen) müssen bei einer kontinuierlichen Entwicklung während der Produktlebenszeit berücksichtigt werden. Das macht ein permanentes Managen aller Produktinstanzen über alle Produktentwicklungsdomänen notwendig.352 Auch die Verwaltung des kontinuierlich anwachsenden Konfigurationswissens aller physisch existierenden Produktinstanzen stellt eine Herausforderung für die Produktentwicklung dar.353

Das Forschungsfeld des digitalen Zwillings und dessen Gestaltung, Implementie rung und Standardisierung wird aktuell stark diskutiert. Erste Lösungsansätze zeigen, dass intelligente CPS aufgrund ihrer charakteristischen Eigenschaften ein enormes Potential für eine Rekonfiguration während der Nutzungsphase bieten.354